Tuesday, August 30, 2011

Wohnungen mit Charakter

Unser Haus in Wrocław war voll von Gespenstern der Vergangenheit. Durch die Rohre, die das Bad durchzogen, konnte man in den Alltag von alten Frauen und frisch vermählten Paaren in den angrenzenden Wohnzellen hören. Einmal als moderne Errungenschaft des Sozialismus gefeiert, hatte der Plattenbau mit seinen dünnen Wänden und winzigen Zimmern seine besten Jahre hinter sich und bedurfte dringender Renovierung. Den besten Empfang hatte man unter Wasser in der kleinen verbeulten Badewanne, die, wenn man das Wasser zu schnell ablaufen ließ, das winzige Badezimmer überschwemmte. Mit der Wohnung musste man Geduld haben wie mit einer gebrechlichen Alten, die athmete und ihren eigenen Willen besaß: Ein blindes Monokel der Türspion, von einem schlechten Planer innen in die Doppeltür gesetzt. Wenn ich mir die Nase zuhielt und untertauchte, konnte ich hören, wie das Rentnerpaar nebenan Töpfe verrückte und mit den abgenutzten Gegenständen eines langen Lebens hantierte.
Ein Stockwerk tiefer lebte eine alte Dame mit einem kolerischen Dackel, dessen Gebell eines Tages verstummte. Die ehemalige Lehrerin, die hartnäckig ein paar mickrige Pflanzen im Treppenhaus wässerte, war eine gute Freundin der verstorbenen Tante, die noch in unserem Schlafzimmer herumspukte. Olga Okulska war drei Jahre vorher in diesem Zimmer gestorben und hatte eine Wand voller Bilder ihrer verschwundenen Welt hinterlassen. Ein wenig verblasst und mit verschwommenen Gesichtszügen: ihr Mann, der das KZ überlebt und doch vor ihr die Welt verlassen hatte. Sie: erstaunt- besorgten Blickes und noch im Alter mit dickem schwarzen Haar - eine adlige Russin von der Krim, so muss es gewesen sein. Aus irgendeinem Grunde hatte sie aus ihrer Heimat am schwarzen Meer flüchten und im kriegszerstörten Breslau, das gerade Wrocław wurde, ein neues Leben beginnen müssen. Ihr Mann, aus den Lagern entkommen, war hier gelandet wie sie: zwei, die sich in der Not halfen. Als Schlesien polnisch wurde, versteckte die Tante ihren russischen Akzent und vergaß das Deutsch, welches sie unter der Breslauer Verwaltung gelernt hatte. In ihrem Bücherschrank schmiegten sich Volumen in vier Sprachen aneinander, dicke Lederbände mit vergilbten Inschriften, von einer altmodischen Glastür geschützt.
Olga  schlich sich manchmal in die ovalen Schminkspiegel des weißlackierten Trumeau, und  des nachts hörte ich sie in den niedrigsten Frequenzen unseres Kofferradios auf Russisch wispern. "Oдессa", in verblassten Goldlettern unter blauer Küste in einer Glasblase schwimmend, förderten wir aus den Tiefen einer Kommode ans Licht. Souvenirs aus längst vergangener Zeit erinnerten an Abende am Schwarzen Meer, eingraviert in eine silberne Streichholzdose. Diese Herkunft versteckte man in der jungen sozialistischen Republik, die nach Jahrhunderten von Teilung und Opfer zum ersten Mal ihre polnische Identität feierte, besser ganz unten im schweren Holzkoffer, der, in einer Ecke stehend, bereit war für den nächsten Umzug oder eine Rückkehr in die alte Heimat, eine Zukunft, die nun schon Vergangenheit wurde ohne je Gegenwart geworden zu sein.
Wir fanden Gegenstände, deren Funktion wir nur erraten konnten: ein Rasiermesserschärfer aus Holz mit Lederriemen, den die Tante vielleicht als Andenken an ihren Mann behalten hatte, Zweimillionen-Rubel-Scheine aus Zeiten der Inflation, Essenmarken und Rationsstempelbücher. Nur selten öffneten wir das Fenster auf den noch immer halb verwüsteten jüdischen Friedhof, auf dem wichtige Persönlichkeiten, wie Ferdinand Lassalle und Clara Sachs begraben liegen: In ihren letzten Tagen hatte Olga die Toten aus ihren zerschossenen Gräbern klettern sehen.


In einer anderen Zeit und einer fremden Wohnung spricht nun das leise Summen der Klimaanlagen zu uns. Das neue Haus ist ein gut funktionierender Roboter, den ein eiliger Ingenieur vor fünf Jahren in den Wüstensand gesetzt hat. Beim Einzug mussten wir die Plastikhüllen von neuen Möbeln ziehen. Dicke Vorhänge isolieren den Wohnraum von toten Straßen in gleißendem Sonnenlicht. Von Zeit zu Zeit erzittern die Wände von aufgeregten Kinderfüßen im Obergeschoss. Heute sind wir die Gestrandeten des Zufalls ohne Vergangenheit. Kein Krieg hat uns in die Wüste getrieben, sondern das Geld, Revolutionen im Mittleren Osten, junge Republiken und Zukunft. Unser Gastland feiert seine arabische Identität, die in Zeiten der internationalen Wirtschaftskrisen zum ersten Mal Bedeutung hat, und stellt die ehemaligen Kolonialherren als Entwicklungshelfer ein. Besser, wir lernen Arabisch und vergessen die kalte, klare Dämmerung im Spätherbst, das feuchte Laub unter gelben Straßenlaternen wenn der Winter kommt. Hier ist ewige Glut und immer gleiche Wärme. Wir schwimmen auf einer Oberfläche ohne Gesicht, alles ist Jetzt und Licht und Sommer. Keine Ritzen, die in eine andere Welt führen, und wo die Schatten und Ungeheuer hausen. Wer wird in hundert Jahren unsere Lebensgeschichte wie ein Wunder aus einer anderen Zeit betrachten, unsere digitalen Fotos vor der Auflösung bewahren und unsere Schätze ans Licht fördern, aus einem Hartschalenkoffer?


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