
Ein Stockwerk tiefer lebte eine alte Dame mit einem kolerischen Dackel, dessen Gebell eines Tages verstummte. Die ehemalige Lehrerin, die hartnäckig ein paar mickrige Pflanzen im Treppenhaus wässerte, war eine gute Freundin der verstorbenen Tante, die noch in unserem Schlafzimmer herumspukte. Olga Okulska war drei Jahre vorher in diesem Zimmer gestorben und hatte eine Wand voller Bilder ihrer verschwundenen Welt hinterlassen. Ein wenig verblasst und mit verschwommenen Gesichtszügen: ihr Mann, der das KZ überlebt und doch vor ihr die Welt verlassen hatte. Sie: erstaunt- besorgten Blickes und noch im Alter mit dickem schwarzen Haar - eine adlige Russin von der Krim, so muss es gewesen sein. Aus irgendeinem Grunde hatte sie aus ihrer Heimat am schwarzen Meer flüchten und im kriegszerstörten Breslau, das gerade Wrocław wurde, ein neues Leben beginnen müssen. Ihr Mann, aus den Lagern entkommen, war hier gelandet wie sie: zwei, die sich in der Not halfen. Als Schlesien polnisch wurde, versteckte die Tante ihren russischen Akzent und vergaß das Deutsch, welches sie unter der Breslauer Verwaltung gelernt hatte. In ihrem Bücherschrank schmiegten sich Volumen in vier Sprachen aneinander, dicke Lederbände mit vergilbten Inschriften, von einer altmodischen Glastür geschützt.
Olga schlich sich manchmal in die ovalen Schminkspiegel des weißlackierten Trumeau, und des nachts hörte ich sie in den niedrigsten Frequenzen unseres Kofferradios auf Russisch wispern. "Oдессa", in verblassten Goldlettern unter blauer Küste in einer Glasblase schwimmend, förderten wir aus den Tiefen einer Kommode ans Licht. Souvenirs aus längst vergangener Zeit erinnerten an Abende am Schwarzen Meer, eingraviert in eine silberne Streichholzdose. Diese Herkunft versteckte man in der jungen sozialistischen Republik, die nach Jahrhunderten von Teilung und Opfer zum ersten Mal ihre polnische Identität feierte, besser ganz unten im schweren Holzkoffer, der, in einer Ecke stehend, bereit war für den nächsten Umzug oder eine Rückkehr in die alte Heimat, eine Zukunft, die nun schon Vergangenheit wurde ohne je Gegenwart geworden zu sein.
Wir fanden Gegenstände, deren Funktion wir nur erraten konnten: ein Rasiermesserschärfer aus Holz mit Lederriemen, den die Tante vielleicht als Andenken an ihren Mann behalten hatte, Zweimillionen-Rubel-Scheine aus Zeiten der Inflation, Essenmarken und Rationsstempelbücher. Nur selten öffneten wir das Fenster auf den noch immer halb verwüsteten jüdischen Friedhof, auf dem wichtige Persönlichkeiten, wie Ferdinand Lassalle und Clara Sachs begraben liegen: In ihren letzten Tagen hatte Olga die Toten aus ihren zerschossenen Gräbern klettern sehen.
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