Friday, September 16, 2011

der Geist der verschwundenen Dinge

Gedankenversunken steht er in der Küche und hat schon wieder vergessen, was er eben noch suchte. Verdutzt schaut er auf die Kaffeetasse in seiner Hand und erinnert sich: einen Löffel! Dabei liegt das Plastikgeschirr direkt vor ihm auf dem Küchentisch. Mein Mann gehört zur Spezies von Mensch, die sich vollkommen in einer abstrakten Aufgabe vergraben, und dann zum Zeugen werden, wie die Welt der Alltagsgegenstände sich gegen ihn verschwört. Mein Akademiker begreift dann jeden Zufall als Schicksalswendung, spricht von einem Geist, der in unserer Wohnung haust und das Portemonnaie just in dem Moment in Luft auflöst, wenn wir zum Essen verabredet sind, oder den Führerschein unter dem Teppich verbirgt und ihn erst wieder zum Vorschein bringt, wenn es zum Aufbrechen zu spät ist. Gelegentlich nehmen die Gespenster überhand, dann rauft er sich die Haare, macht ein Gesicht des Elends und beteuert mit einem Flackern in den Augen, dass er in ständiger Angst lebe einen falschen Schritt zu tun.
Reisen fordern von uns die genaueste Vorbereitung, sollen sie nicht im Desaster enden. Bevor ich von diesem Fluch wusste und entsprechende Vorkehrungen traf, waren alle unsere Ausflüge eben das: die reinsten Desaster, auf denen alles schiefging, was nur irgendwie misslingen konnte. Ich erinnere mich an eine Reise, die zum Stillstand kam, bevor wir überhaupt unser Haus in Berlin verlassen hatten: beim Beladen des Autos hatten wir es geschafft uns aus der Wohnung auszusperren! Glücklicherweise konnten wir mittels Mobiltelefon einen Schlüsseldienst rufen. Mit zweistündiger Verspätung trafen wir bei den verabredeten Bekannten ein. Zu anderen Anlässen schien sich die Natur ganz ohne Zutun von Schusseligkeit gegen uns zu verabreden: Im wunderbaren kroatischen Split wurden wir von Sturzregen begrüßt, dem kein Regenschirm gewachsen war. Flüsse rauschten über die Windschutzscheibe unseres kleinen polnischen Fiat, aber mein Mann war fest entschlossen zurückzuschlagen und unserem Gespenst der Widrigkeiten nicht klein beizugeben. So gelangten wir schließlich mit fest am Körper klebender Kleidung und Schuhen voll Wasser in die Herberge. Ob platte Reifen, ausgebuchte Hotels, Klein- oder Großkriminalität, zielsicher trafen uns sämtliche Reisepannen.
Wie unsere Katze hasst mein Mann neue Wohnungen, was besonders unpraktisch ist, da wir bisher nie länger als zwei Jahre in ein- und derselben zugebracht haben. Während sich die Katze tagelang hinter Vorhänge und unter Sofas drückt und bei jedem Geräusch zusammenzuckt, als finge ein Krieg an, breitet mein Mann unsystematisch ein Sammelsurium von Zetteln, zerfledderten Büchern, Heften, zerknüllten Taschentüchern, Schlüsseln, Schrauben, Kabelsalat, Tüten, und Taschen über den ungewohnten Wohnraum, nur, um ein paar Stunden später den ersten Nervenzusammenbruch zu erleiden: Sein Pass sei unauffindbar! Nun bliebe uns nichts weiter übrig, als zur Botschaft zu fahren und für $500 einen neuen zu bestellen. Da er aber ohne Pass nicht Auto fahren könne in diesem Land, seien wir wohl oder übel verloren, und Schuld an allem sei nur diese vermaledeite neue Wohnung! Keine rationale Erklärung kann ihn in solchen Momenten davon abhalten unseren bösen Hausgeist zu beschwören. Slavischer Fatalismus breitet sich aus, bis ich den Pass aus eben jener Tasche ziehe, die wir vorher als "Tasche für alles Wichtige" festgelegt hatten.

Dubravka Ugrešić zält in einem ihrer Bücher die Dinge auf, die im Bauch des Walrosses Roland gefunden wurden, nachdem es 1961 im Berliner Zoo starb: "ein rosa Feuerzeug, vier Eisstäbchen (hölzern), eine Metallklemme in Form eines Pudels, ein Bieröffner, eine Frauenhalskette (wahrscheinlich Silber), eine Haarspange, ein Plastikmesser, eine Sonnenbrille, eine Metallfeder (klein), ein Gummiring, ein Wurfgeschoss (Kinderspielzeug), eine Stahlkette von 18cm Länge, vier Nägel (groß), ein grünes Plastikauto, ein Metallkamm, ein Plastikband, eine kleine Puppe, eine Bierdose (Pilsner, halber Liter), eine Schachtel Streichhölzer, ein Babyschuh, ein Kompass, ein kleiner Autoschlüssel, vier Münzen, ein Messer mit Holzgriff, eine Babypuppe, ein paar Schlüssel (fünf), ein Vorhängeschloss, eine kleine Plastiktüte mit Nadeln und Faden." Die kuriose Sammlung von zufälligen Gegenständen erinnert an den Wust von Kleinteilen, der meinen Mann begleitet, wohin er auch geht. Haben wir an einem Ort mehr als drei Tage verbracht, lagern sie sich überall ab, die Grüppchen von Münzen und Gummibändern, Papierschnipseln, Feuerzeugen, Batterien; als könnte er nichts Neues mehr schlucken; als habe er schon mehr angesammelt, als ein Magen verdauen kann in einem Leben.
Unsere Lieblingsstadt ist Berlin. Sie ähnelt dem Magen meines Mannes. Ugrešić schreibt, Berlin habe wie das Walross Roland in seinem Leben zu viel Unverdauliches geschluckt: Im Teufelsberg liegen wie zum Beweis 26 Millionen Kubikmeter Trümmer unter der Grasnarbe. In Berlin tritt man mit jedem Schritt in ein anderes Extrem der Geschichte. Unheimlich ist's in der leeren U-Bahn, wenn man im Abteil allein fährt. Unter der Erde: Unverdaulich-Unvereinbares, Vergangenes.
Wenn Menschen Städten ähneln, so ist die Lebensgeschichte meines Mannes eine ebenso ungeordnete Ansammlung von Dingen, die sich im Innern ablagern und aufeinanderschichten: Geboren im kommunistischen Polen der späten 70er Jahre, aufgewachsen im bettelarmen Lybien und Ägypten der 80er, Fremdling und halbherziger Katholik im konservativen Colorado und dann Teil der Neuen Linken im kriminalitätsgeschüttelten New York City. Als Erwachsener: Reisen zurück in das Geburtsland Polen. Leben testen in Berlin, in New Jersey.
Vielleicht muss man heute in ein reiches und zutiefst traditionelles Land wie Qatar gehen, um das Lebensgefühl einer Kindheit im Sozialismus wiederzufinden: Hier predigt man Familie, Moral und Nächstenliebe, verwirft Dekadenz und Egoismus. Es ist leicht zu kritisieren --- oder zu glauben. Wer die gängigen Werte akzeptiert, hat Chancen auf einen gut bezahlten Job. Wer dagegen ist, verlässt das Land. Die Kinofilme hier sind jugendfrei, die zensierte Musik harmlos; Fernsehsendungen bilden, Zeitungen bestätigen die bestehende Welt, die hier Wahrheit bedeutet. Identität ist erlaubt.

Von Zeit zu Zeit überrascht mich mein Mann mit seiner eigenen, skurrilen Poetik, die das scheinbar Unvereinbare nebeneinanderrückt. In unserem derzeitigen Wohnsitz zeigt er auf die Katze, die sich in der Gardine zusammengerollt hat: "Sieh, sogar Kleo trägt hier Schleier!" Auf der Straße rauscht eine schwarz Vermummte samt Entourage im dicken Jeep vorbei: "War das eben Darth Vader?" - Für einen Moment staunen wir über die Genauigkeit, mit der der Vergleich ein Gefühl trifft, lachen, und vergessen das Gespenst der unvereinbaren Dinge.

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